Ein Erbe unserer Stammesgeschichte
„Immer habe ich mein Baby in einer Hand oder gar in beiden. Ich komme fast zu nichts!“ – Ein Stoßseufzer so mancher Mutter, die neben der Säuglingsbetreuung auch noch andere Aufgaben zu bewältigen hat. Obwohl anscheinend alles für das körperliche Wohlbefinden der Kleinen getan wurde, beginnen sie unruhig zu werden oder gar zu schreien, sobald man sich entfernt. Das, was in unserer Stammesgeschichte überlebenswichtige Notwendigkeit war, wird heute gegebenenfalls zur Belastung oder als Anspruch empfunden: Das beständige Verlangen nach Nähe. Um dieses Bedürfnis nachvollziehen zu können, müssen wir uns einfach auf unsere Stammesgeschichte besinnen. Fast während unserer gesamten mehrere Millionen Jahre währenden (menschlichen) Stammesgeschichte war es aufgrund der nomadischen Lebensweise nötig, Säuglinge stets mitzunehmen. Das galt schon für unsere nicht-menschlichen Vorfahren. Den Nachwuchs zu tragen ist also ein viele Millionen Jahre gültiges Erbe. Erst vor 10.000 Jahren begannen Menschen sesshaft zu werden. Seitdem besteht die Möglichkeit, Kinder an einem sicheren Ort zurückzulassen. Das ist jedoch ein viel zu kurzer Zeitraum, für Veränderungen biologisch (genetisch) verankerter Anpassungen. Ganz nebenbei: Auch heute noch kennen wir nomadisch oder halbnomadisch lebende Kulturen, für die das Mitnehmen der Kinder eine Notwendigkeit ist.
Über alle Sinne bestätigte Nähe
Ein Säugling ist also angeborenermaßen nach wie vor daran angepasst, ständig in direkter Nähe einer seiner Betreuungspersonen zu sein, am besten im engen Körperkontakt. Und wenn er dabei noch hin- und herbewegt wird durch den wiegenden Schritt der Mutter, so wird deren Nähe über fast alle Sinne bestätigt und damit das so wichtige Geborgenheitsgefühl vermittelt. Irgendwo allein niedergelegt zu sein, ohne die Anwesenheit einer Betreuungsperson wahrnehmen zu können, bedeutet für einen Säugling hingegen in Erinnerung an unsere stammesgeschichtlichen Gegebenheiten – dass er verlassen ist, also in Gefahr. Kein Wunder also, daß er unruhig wird und zu schreien beginnt. Er fühlt sich allein gelassen.
Herbert Renz-Polster erklärt, dass Babys in den ersten Lebensmonaten besonders viel Körperkontakt suchen, weil sie in dieser Zeit noch nicht über die nötige Selbstregulation verfügen. Der enge Kontakt zu den Bezugspersonen hilft ihnen, ihre Körperfunktionen wie Temperatur, Kreislauf und Atmung zu stabilisieren und fördert eine sichere Bindung. Durch das Tragen im Tragetuch oder in einer Tragehilfe erleben Babys Nähe, Geborgenheit und Schutz, was ihre emotionale und körperliche Entwicklung unterstützt. Renz-Polster betont, dass Babys durch den Körperkontakt nicht verwöhnt werden, sondern ihre grundlegenden Bedürfnisse nach Nähe und Sicherheit erfüllt werden, was für ihre gesunde Entwicklung essentiell ist.
Posth warnt ausdrücklich davor, dieses Bedürfnis als „verwöhnt“ zu interpretieren oder das Kind bewusst schreien zu lassen. Für ihn ist körperliche Nähe kein Luxus, sondern eine notwendige Voraussetzung für gesunde frühkindliche Entwicklung, emotionale Integration und die Ausbildung einer sicheren Bindung.
Wird ein Baby getragen, kann es beruhigt vom erhöhten Platz aus am Körper der Mutter Interessantes in der Umgebung begutachten oder ihre Aktivitäten beobachten, die Augen dürfen aber auch zufallen. Die Mutter kann auch bei einem sehr nähebedürftigen Kind noch anderen Aufgaben als dem Beschäftigen und Beruhigen des Kindes nachgehen. Und nicht zu vergessen: Manche Situationen und Wege sind ohne Kinderwagen besser zu meistern, beispielsweise Treppenberge, Bustürfallen, Aufzugengpässe, Gehweghindernisse oder Menschengedränge. So haben im praktischen Alltag beide Seiten (Eltern und Kind) etwas vom Tragen. Voraussetzung dafür ist, dass die Eltern bereit dazu sind, sich ihr Kind umzubinden und dass sie die körperliche Nähe seitens der Erwachsenen nicht als zu intensiv empfinden. Wir sind eine eher körperdistanzierte Kultur. Es ist nicht selbstverständlich für alle Eltern, längerfristig eine so intensive und enge Körpernähe zuzulassen.
Die Eltern-Kind-Bindung beim Tragen
Eltern heben immer wieder hervor, dass sie durch das Tragen ihr Kind viel besser einschätzen können. Sie wissen aufgrund der körperlichen Nähe früher ob ihr Baby beispielsweise gleich aufwachen wird, Hunger bekommt, ein Windelwechsel nötig wird oder ob es irgend etwas anderes plagt. Mütter können dann, sind sie unterwegs, schon einen geeigneten Platz zum Stillen ansteuern, bevor das Hungergefühl, weil sich nicht gleich eine geeignete Gelegenheit ergibt, in eine ausgeprägte Schreiphase ausartet, aus der das Kleine nicht so einfach wieder herausgeholt werden kann.
Dabei geht es nicht einfach nur um die prompte Befriedigung kindlicher Bedürfnisse und Reduzieren von Schreiphasen. Es hat auch etwas mit der Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung und dem elterlichen Kompetenzgefühl zu tun. Mütter oder Väter, die normalerweise spüren, was gerade mit ihrem Kleinen los ist, fühlen sich durch diese vorausschauende Handlungsmöglichkeit natürlich sicherer im Umgang mit ihm, können sich so als jemand wahrnehmen, der den Wechsel zur Elternschaft gut gemeistert hat und fühlen sich bestätigt in ihrer neuen Rolle. Sie sind selbstsicherer und ruhiger im Umgang mit ihrem Kind.
Dieses feinfühlige und kompetente Eingehen auf die Signale und Bedürfnisse eines Säuglings ist eine wichtige Komponente, die die Qualität der Bindungsbeziehung zwischen Eltern und Kind bestimmt. Diese ist abhängig von der frühzeitigen Wahrnehmung der Bedürfnisse und Signale des Kindes, deren richtiger Interpretation und der prompten und angepaßten Reaktion darauf. Durch die körperliche Nähe sind Eltern hierzu eher in der Lage und können somit feinfühliger auf ihre Babys reagieren. Und das gilt nicht nur für die Zeit, in der das Kleine gerade getragen wird. Es stellte sich heraus, dass durch das Tragen die Bereitschaft der Eltern, auf ihr Kind einzugehen, und ihre Sensibilität für die kindlichen Signale unterstützt und verbessert werden. Ihr Baby zu tragen hat also einen positiven Effekt auf die elterlichen Fähigkeiten.
Tragen kommt den Grundbedürfnissen eines Säuglings nach Nähe einer Bezugsperson entgegen. Auch Eltern kommen auf ihre Kosten, sei es, dass sie die Nähe ihres Kindes genießen und einen besseren Zugang zu ihrem Baby haben, sei es, dass sie sich mehr Handlungsfreiheit schaffen. Manchmal ist es eine Art Überlebensstrategie: “ Mir blieb einfach nichts anderes übrig.“
Literatur
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Hassenstein, B.: Verhaltensbiologie des Kindes. Piper, München, Zürich, Neuauflage, im Druck, (1987)
Hunziker, U.: Der Einfluss des Tragens auf das Schreiverhalten des Säuglings. In: Pachler, M. J., Straßburg, H.-M. (Hrsg.) Der unruhige Säugling. Fortschritte der Sozialpädiatrie Bd. 13. Hansisches Verlagskontor. Lübeck (1989)
Keller H (Hrsg.): Handbuch der Kleinkindforschung. Hans
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Klaus, M. H.; Kennell, J. H.; Klaus, P. H.: Der erste Bund fürs Leben. Rowohlt, Reinbek (1997)
Renz-Polster, H. (2022). Kinder verstehen. Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt. Penguin Verlag
Die Autorin
Dr. Evelin Kirkilionis studierte Biologie an den Universitäten Kaiserslautern und Freiburg. Mit ihrer Doktorarbeit wandte sie sich der Humanethologie zu. Ihr Schwerpunkt lag dabei auf der kindlichen Verhaltensentwicklung. Nach Beendigung ihres Studiums nahm sie an verschiedenen Projekten im In- und Ausland teil, die sie auch mehrfach in den afrikanischen Raum führten. Sie ist Mitbegründerin der „Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen“ (FVM). Diese selbstständige Forschungsgesellschaft bearbeitet aktuelle praxisrelevante Problemstellungen der menschlichen Verhaltensentwicklung. Eine wichtige Aufgabe sieht sie in der Vermittlung dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse an entsprechend interessierte und ausgerichtete Institutionen und Personenkreise. Mittels Fortbildungen, Workshops und Vorträgen richtet sich die FVM beispielsweise an Fortbildungsstätten für LehrerInnen, ErzieherInnen, Jugendpsychiaterlnnen oder Hebammenverbände, Arbeitsgemeinschaften freier Stillgruppen, Familienweiterbildungsstätten, Landeswohlsfahrtsverbände, Erziehungsberatungsstellen oder Volkshochschule
Quelle www.didymos.de

